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Der Geltungsanspruch
Unsichtbar. Einflussreich. Der Geltungsanspruch ist eine Eigenschaft von Selbstverständlichkeiten. Man kann ihn an sich selbst erleben.
Unsichtbar. Einflussreich. Der Geltungsanspruch ist eine Eigenschaft von Selbstverständlichkeiten. Man kann ihn an sich selbst erleben.
Haben Sie sich einmal vor Augen geführt, wie viele Dinge es gibt, die Sie alle machen könnten, aber nicht machen? Sie könnten verschiedenfarbige Socken tragen, sich an den Bau eines elektrischen Toasters wagen oder versuchen, den Mond einzufangen.
Offenkundig gibt es Einflüsse, die Sie von Dingen dieser Art abhalten. Dazu gehören vielleicht der Wunsch, nicht unangenehm aufzufallen, ein Mangel an Wissen, Material und handwerklichem Geschick oder der Gedanke an die Aussichtslosigkeit eines Unterfangens.
Genau betrachtet entscheiden Sie sich aber nicht fortwährend gegen Handlungen dieser Art. Es ist vielmehr so, dass Ihnen im Alltag Möglichkeiten dieser Art gar nicht erst in den Sinn kommen. Bei Ihren Socken wählen Sie immer wieder aufs Neue zwei gleichfarbige, den Toaster kaufen Sie bei Bedarf, und hinsichtlich des Einfangens des Mondes überlassen Sie Derartiges lieber den Figuren in Filmen und Romanen. Etwas in Ihnen bewahrt Sie davor, bestimmte Handlungen in Erwägung zu ziehen.
Andere Dinge hingegen machen Sie regelmäßig. Sie akzeptieren geprägtes Metall und bedrucktes Papier als Tauschmittel. In einem Wartebereich wählen Sie einen Platz in einem gebührenden Abstand zu anderen Anwesenden. Und wenn Sie jemandem eine Mitteilung machen, nutzen Sie eine eng definierte Menge an Lauten oder Zeichen.
Handlungen der einen Art zu unterlassen, erscheint Ihnen ebenso selbstverständlich, wie Handlungen der anderen Art zu vollziehen. Über beides denken Sie in der Regel nicht weiter nach. Sie bewältigen viele Bereiche Ihres Lebens, wie andere Menschen auch, dank einer Art innerem Autopiloten. Unser uns bewusstes Handeln beruht auf strukturgebenden Voraussetzungen. Die haben Einfluss. Doch deren Einflussnahme ist uns selten bewusst.
So handeln wir weitgehend uninformiert über die Voraussetzungen und Strukturen unseres Handelns. Und doch gibt es diesen Raum an Optionen, in dem sich unsere Gedanken, Entscheidungen und Handlungen bewegen und in dem nicht alles gleich wahrscheinlich ist. Steht er im Einklang mit den Möglichkeiten in unserer Umgebung beziehungsweise den Erwartungen in unserem Umfeld, kommen wir leicht und entspannt durch den Tag.
Natürlich haben wir die Freiheit zu unzähligen Entscheidungen: Sie könnten ab jetzt immer das essen, was sie am wenigsten mögen. Sie haben die Möglichkeit, die Menschen zu hintergehen, die Ihnen am meisten vertrauen. Es steht Ihnen offen, sich von den Gegenständen zu trennen, die Ihnen etwas bedeuten. Auch der Umzug an einen Ort, wo es nichts gibt, was Sie dort hält, ist eine Option. Die Welt steht Ihnen offen.
Doch höchstwahrscheinlich spüren Sie bei zumindest einigen dieser Aussagen das Aufkommen eines inneren Widerstands. Die Begegnung mit einer Absurdität, die den Vorschlägen innezuwohnen scheint. Es ist das Aufbegehren gegen die Infragestellung von Dingen, die, obwohl in den Beispielen nicht genannt, für Sie eine Selbstverständlichkeit darstellen. In diesen Momenten spüren Sie die Macht von Geltungsansprüchen.
Geltungsansprüche zählen zu den Eigenschaften von Selbstverständlichkeiten. Was Menschen für selbstverständlich erachten, das verteidigen sie. Geltungsansprüche sind von Bedeutung für die Analyse von Abwehrreaktionen, die Entstehung von Meinungsverschiedenheiten und die Beilegung von Konflikten.