Die vierte Spur
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Die vierte Spur

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Zu Hürden des Zugangs

In dem Versuch, das Phänomen der Selbstverständlichkeit zu erhellen, begegnen einem Hürden. Zwei werden hier vorgestellt.

Die Beschreibung und die Ausweisung von Voraussetzungen des Handelns als Selbstverständlichkeiten verstellen den Zugang zu diesen Voraussetzungen und zum Phänomen der Selbstverständlichkeit.

Erste Hürde

Im deskriptiven Gebrauch

Handeln beruht auf Voraussetzungen. Im Alltag jedoch steht das mit dem Handeln Angestrebte im Mittelpunkt. Das Angestrebte verleiht den Voraussetzungen erst ihre Bedeutung. Während sich das Angestrebte im Singular konkret und offenkundig zeigt, erscheinen die Voraussetzungen im Plural eher diffus und verborgen.

Unter dem Vorrang des Angestrebten wird Gegenwärtiges fraglich, wenn es droht, seine Funktion für das Zukünftige nicht zu erfüllen. Aus der Weite des unproblematisch Gegenwärtigen tritt dann das gegenwärtig Problematische hervor und fordert seine Beachtung ein. Es drängt in den Vordergrund als Mittel zum Zweck, den angestrebten Fortschritt vor einem Stocken oder Schlingern zu bewahren. Es ist der Augenblick, wo eine Voraussetzung als Voraussetzung bewusst wird.

Werden aber Voraussetzungen in den Vordergrund gestellt, die gegenwärtig nicht fraglich und nicht problematisch wirken, sind wir irritiert. Warum sollten wir ihnen Aufmerksamkeit schenken? Etwas Fragloses und Unproblematisches hervorzuheben, obwohl es an ihm scheinbar nichts gibt, was der Rede oder eines Gedankens wert ist, erzeugt leicht Unverständnis, weil der Inhalt in diesen Fällen einer Selbstverständlichkeit gleichkommt.

Selbstverständlichkeiten stehen hier dann für Voraussetzungen, die nicht bedroht erscheinen. Vor dem Hintergrund begrenzter kognitiver Ressourcen können wir so über als fraglos und unproblematisch markierte Voraussetzungen hinwegsehen, sie aus dem Zentrum in die Rand- und Außenbereiche unserer Aufmerksamkeit stellen, um fokussiert auf dem Weg zum Angestrebten zu bleiben.

Wir bauen und vertrauen auf die Existenz von Selbstverständlichkeiten. Gleichzeitig sind sie unserer Aufmerksamkeit in eigentümlicher Art entzogen. Das erschwert den Zugang zu ihnen und zum Phänomen der Selbstverständlichkeit. Etwas zu erfassen und zu beschreiben, das sich in den Grenzbereichen unserer Aufmerksamkeit bewegt, bedarf besonderer Vorgehensweisen.

Zweite Hürde

Im präskriptiven Gebrauch

Wird etwas als Selbstverständlichkeit bezeichnet, wird es mit der Vorstellung verbunden, keiner weiteren Betrachtung zu bedürfen. Der Ausdruck gleicht einem Etikett mit der Aufschrift: „Hier ist alles geklärt. Bitte richten Sie Ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes.“

Wird die Eigenschaftszuweisung akzeptiert, wirkt das entlastend, denn die Botschaft ist: Eine Beschäftigung mit diesem Inhalt ist nicht erforderlich. Zugleich – und das ist die Kehrseite – ist damit der Inhalt vor einer näheren Analyse und kritischen Infragestellung abgeschirmt, da er von nun an als fraglos und unproblematisch gilt.

In Fällen dieser Art ist der Gebrauch des Ausdrucks „Selbstverständlichkeit“ weniger von einem beschreibenden (deskriptiven) und mehr von einem zuschreibenden bis vorschreibenden (präskriptiven) Charakter. Es geht nicht um Inhalte, die fraglos und unproblematisch erscheinen. Es geht vielmehr um Inhalte, die fraglos und unproblematisch erscheinen sollen! Das ist der Wechsel von einem konstativen zu einem performativen Gebrauch.

Wer sich Inhalten widmen will, die in dieser Weise als Selbstverständlichkeiten ausgewiesen sind, bekommt die Erwartung anderer zu spüren, das Thema ruhen zu lassen. Wer sich dem nicht fügt, muss Widerstände überwinden und Gründe liefern, warum als betrachtungsunwürdig Ausgewiesenes nun doch betrachtungswürdig sein soll.

Der Ausdruck „Selbstverständlichkeit“ weist nicht nur anderen Inhalten die Eigenschaft zu, keiner weiteren Aufmerksamkeit zu bedürfen. Er wirkt auch auf sich selbst zurück. Er repräsentiert das Phänomen der Selbstverständlichkeit und verknüpft es gleichzeitig mit dem Eindruck, keiner genaueren Betrachtung zu bedürfen. Deskriptive und performative Anteile kommen hier zusammen.

Zur Infragestellung, ob bestimmte Inhalte eine Selbstverständlichkeit darstellen, kommt es häufig. Zur Infragestellung, ob Selbstverständlichkeiten eine Selbstverständlichkeit darstellen, kommt es hingegen nur selten. Der Ausdruck „Selbstverständlichkeit“ vermittelt den Eindruck, auch das Phänomen der Selbstverständlichkeit sei eine Selbstverständlichkeit. Er etikettiert es als geklärt, fraglos, unproblematisch, betrachtungsunwürdig, keiner Aufmerksamkeit bedürfend. So bewahrt der Ausdruck das Phänomen vor seiner Analyse und Infragestellung.

Wer etikettierten Selbstverständlichkeiten entgegentreten will, um die Inhalte zu ergründen, muss den Inhalten ihre Selbstverständlichkeit absprechen. Auch dem Ausdruck „Selbstverständlichkeit“ muss, will man das Phänomen der Selbstverständlichkeit verstehen, seine Selbstverständlichkeit abgesprochen werden. Das ist in vielerlei Hinsicht kein leichtes Unterfangen.